28.
Simon kam wieder zu sich und spürte, wie eine Nadel sich in seinen linken Oberarm bohrte. Er bäumte sich auf, aber Adas kräftige Hände drückten ihn auf das Bett zurück.
»Ganz ruhig, mein Junge. Ist bloß eine Impfung gegen Wundstarrkrampf. Die wirst du brauchen.«
Simon blinzelte. Er sah Adas ledriges dunkles Gesicht und das der Schwester, die sich beide besorgt über ihn beugten.
»Alles in Ordnung, junger Mann?«
Simon richtete sich auf und rieb seinen Arm. Er saß auf einem weiß bezogenen Bett, in einem hellen, sonnendurchfluteten Zimmer, das leicht nach Desinfektionsmitteln roch. Ada war da, Julia stand am Fußende des Bettes und Tommy kauerte auf dem glänzenden Boden.
Neben Simon, in einem zweiten Bett, lag der alte Mann mit einem weißen Verband um den Kopf. Man hatte das Oberteil seines Bettes leicht angekippt und halb sitzend betrachtete er neugierig, was um ihn herum geschah.
Als ihre Blicke sich trafen, erschien ein breites Grinsen auf Boyds dunklem Gesicht. »Na, Cowboy«, sagte er mit krächzender Stimme, »du hast uns allen einen mächtigen Schrecken eingejagt.«
Simon hörte ein glucksendes Lachen. Es kam von Julia. Dann lachte auch Ada, laut und kraftvoll. Schließlich, noch etwas mühsam zwar, lächelte auch er.
Überglücklich, den alten Mann so lebendig zu sehen, fiel mit einem Mal eine große Last von Simons Schultern. Ein warmes Gefühl der Erleichterung und der Dankbarkeit durchströmte ihn.
»Bevor ich Sie im Kreise Ihrer Lieben allein lasse, würde ich mir gerne noch Ihre Verletzung ansehen, junger Mann«, riss ihn die Stimme der Stationsschwester aus seinen Gedanken.
Er wandte sich zu ihr um. »A-ber ich...« Schusswunden mussten der Polizei gemeldet werden und Simon wollte nicht, dass Ada seinetwegen erneut Ärger bekam.
»Sie haben keine Krankenversicherung, ich weiß. Aber ansehen kostet nichts.«
Simon gab sich geschlagen, denn zur Gegenwehr fehlte ihm die Kraft. Er hatte ohnehin keine Chance gegen diesen weißen Drachen. Absurderweise schien sich die Stationsschwester mit den anderen verbündet zu haben, während er ohnmächtig gewesen war.
Als sie ihm versicherte, dass die Wunde gut heilte, war Simon ihr sogar ein wenig dankbar. Er bekam einen neuen Verband, danach ließ die Schwester sie allein im Krankenzimmer.
Julia berichtete ihrer Großmutter, was auf der Ranch vorgefallen war, und Ada lauschte mit versteinerter Miene. Als Julia geendet hatte, sagte die alte Frau: »Deine Mutter kommt heute hierher. Sie war auf der Ranch, und als sie alles verlassen vorfand – die Tür zum Ranchhaus aufgebrochen – hat sie sich schreckliche Sorgen gemacht.«
Simons Kopf sank immer tiefer. Er fühlte sich für alles verantwortlich, was passiert war.
»Wann wird sie hier sein?«, fragte Julia.
»Sie sagte, es kann spät werden.«
In der nächsten Stunde saßen sie zusammen und sprachen darüber, wie es weitergehen sollte. Ada und Tommy konnten die Nacht bei Boyd im Krankenhaus verbringen, in einem Zimmer nebenan. Simon telefonierte mit Dominic, der ihn in seinem Haus erwartete.
»Ich bringe den Jeep morgen zurück auf den Krankenhausparkplatz«, sagte er zu Ada.
»Du willst die Ranch verlassen?«, fragte sie. Sie sagte nicht: Du willst uns verlassen?
Simon nickte. Er vermied jeglichen Blickkontakt mit der alten Frau oder mit Boyd, der ja glücklicherweise nichts hören konnte und deshalb auch nicht verstand, worum es ging.
Julia musterte ihre Großmutter.
Adas Miene war starr und ließ nicht erkennen, was wirklich in ihrem Kopf vorging. »Vielleicht überlegst du es dir ja noch«, sagte sie schließlich leise.
Simon erhob sich, um sich zu verabschieden, da stand auch Julia auf. »Ich fahre mit Simon zu Dominic«, offenbarte sie mit entschlossener Stimme.
Überrascht sah er sie an.
»Aber deine Mutter wird dich sehen wollen«, bemerkte Ada.
»Sie sieht mich ja morgen.«
»Wie du meinst.«
Simon gab Ada Dominics Nummer, dann verabschiedeten sie sich von Tommy und den beiden Alten und verließen das Krankenhaus.
Sie fuhren nach East Bench, dem Stadtviertel im Nordosten, in dem Dominic wohnte. Es war eine ruhige Gegend mit vielen Bäumen und hübschen kleinen Holzhäusern.
Als sie wenig später in Dominics zugewachsenem Garten saßen, dem Zirpen der Grillen lauschten und Eistee tranken, fiel endlich alle Anspannung von Simon ab.
Noch einmal mussten sie erzählen, was auf der Ranch vorgefallen war. Auf dem Gesicht des großen Kochs spiegelten sich Ungläubigkeit, Entsetzen und Zorn. Doch dann erschien ein Lächeln, das Simon irritierte.
»Das ist wirklich eine furchtbare Geschichte«, sagte Dominic schließlich. »Aber etwas Gutes hat sie auch.«
Simon und Julia sahen den Mann verwundert an.
»Du stotterst nicht mehr, Simon.«
Simon drehte verlegen sein Glas mit dem Eistee in den Händen. »Ja, das stimmt. Aber es funktioniert nur bei Leuten, die ich mag.«
Dominic lachte. »Na, dann wirst du dir eben von nun an Mühe geben, die Menschen ein wenig zu mögen.«
»Ich kann’s versuchen.«
Eine Weile schwiegen sie und lauschten dem Zirpen der Grillen. Glühwürmchen flogen durch Dominics wilden Garten. Rankenpflanzen mit großen blauen Blüten wanden sich über den Zaun. Hier vergisst man, dass man in einer Stadt ist, dachte Simon.
»Was wirst du nun tun?«, wandte sich Dominic an ihn.
»Keine Ahnung.« Seine Stimme klang mutlos, obwohl er das nicht beabsichtigt hatte. »Auf die Ranch kann ich nicht zurück.«
Der Koch nickte. »Nächstes Wochenende fahre ich ins Death Valley zu Caleb Lalo. Ich hab gehört, der Medizinmann ist krank und sucht jemanden, der ihm hilft. Ich kann dich mitnehmen, wenn du willst.«
Simon nickte. Er war froh über das unerwartete Angebot, aber es fiel ihm schwer, Begeisterung zu zeigen. Dass er sein Zuhause verloren hatte, musste er erst einmal begreifen. Obwohl er die Stille und den Frieden in Dominics Garten genoss, sehnte er sich schon jetzt nach seinem gemütlichen Wohnwagen, den Bergen hinter der Ranch und den Tieren. Er vermisste Ada und Boyd. Simon holte tief Luft, um den dumpfen Druck auf seiner Brust loszuwerden.
Schließlich erhob sich Dominic. »So, ihr beiden, ich werde euch jetzt allein lassen. Ihr seid nämlich nicht die einzigen Verliebten in der Stadt.«
»Du hast eine Freundin?«, fragte Simon.
»Ja.« Dominic lachte. »Und sie ist beinahe so hübsch wie deine.«
Er zeigte ihnen das Haus und wo sie schlafen konnten. Anschließend verabschiedete sich der Koch mit einer festen Umarmung von beiden.
Die Tür fiel hinter Dominic ins Schloss und Simon küsste Julia. Noch eine geschenkte Nacht, dachte er und wünschte, die Zeit würde stehen bleiben.
Sie gingen zurück in den Garten, legten sich ins Gras und sahen hinauf in den von Sternen gesprenkelten Himmel. Zum ersten Mal waren sie allein, wirklich allein. Ein roter Stein ist die Liebe zwischen Mann und Frau, ist der Einklang ihrer Körper im Gras. Simon dachte, dass der rote Stein sein Versprechen eingelöst hatte. Das Geheimnis war, daran zu glauben und zu vertrauen.
Später, Julia stand gerade unter der Dusche, klingelte das Telefon. Simon hob ab, er dachte, Dominic hätte etwas Wichtiges vergessen. Doch es war Hanna. Sie klang ungehalten und wollte ihre Tochter sprechen.
»Hallo, Ma«, sagte Julia, ein Handtuch um den Körper geschlungen. Sie hatte keine Lust, mit ihrer Mutter zu reden, aber es ließ sich nicht vermeiden.
Ein Schwall von Vorwürfen kam aus der Leitung. Hanna forderte Erklärungen, ihre Stimme überschlug sich vor Sorge. Julia ließ sich davon nicht beeindrucken.
»Hat das nicht bis morgen Zeit, Ma?«
»Wo bist du, Julia? Ich habe ein Hotelzimmer ganz in der Nähe des Krankenhauses. Ich komme dich holen.«
»Nein, Ma«, sagte Julia. »Ich bleibe hier, bei Simon.«
»Julia, du . . .«
»Bis morgen, Ma.« Sie legte auf.
Am nächsten Morgen flocht Simon zum letzten Mal Julias Zopf. Sie frühstückten in Dominics Garten, anschließend trugen sie Simons Sachen ins Haus und Julia schenkte ihm ihren MP3-Player.
»Da ist Musik drauf, die ich gerne höre«, sagte sie. »Aber du kannst alles löschen und das überspielen, was du magst. Dominic hat einen Computer.«
Simon bedankte sich mit einem Kuss. Er schloss das Haus ab und sie fuhren durch die Stadt zurück zum Krankenhaus.
Simon wusste, dass Julia und er sich auf einiges gefasst machen konnten. Und obwohl er es gewohnt war, der Sündenbock zu sein, versuchte er sich gegen Hannas Vorwürfe zu wappnen. Aber als Julia ihrer Mutter in Boyds Krankenzimmer gegenübertrat, war Hanna unerwartet still. Sie sah gut aus, braun gebrannt und erholt. Erleichtert nahm sie ihre Tochter in die Arme.
Es schien, als ob Hanna Julia plötzlich mit anderen Augen betrachten würde.
Simon stand scheinbar unbeteiligt gegen den Türrahmen gelehnt, beobachtete und schwieg. Ab und zu spürte er, wie Hannas verstohlener Blick auf ihm ruhte. Ob sie ihn hasste, weil er Julia liebte? Eine Menge Dinge waren schiefgelaufen. Simon nahm an, dass Hanna ihrer Tochter in Zukunft verbieten würde, zu einem jungen Mann zu reisen, der sie so in Gefahr gebracht hatte.
Im August wurde Simon achtzehn, Julia aber erst sechzehn. Es würde noch zwei Jahre dauern, bis sie volljährig war und selbst entscheiden konnte. Aber wie Simon die Dinge auch drehte und wendete, alles würde so kommen, wie es kommen musste.
In den vergangenen drei Wochen war er fast ständig mit Julia zusammen gewesen. Wenn er daran dachte, wie allein er in wenigen Minuten sein würde, konnte er kaum noch schlucken.
Julia gab ihrem Großvater einen Kuss auf die Wange und umarmte ihn. »Ich liebe dich, Grandpa«, brüllte sie, was dem alten Mann die Tränen in die Augen trieb und Simon gleich mit.
Dann drückte sie Tommy an sich. »Mach’s gut, Schreihals«, sagte Julia mit belegter Stimme. »Wenn wir uns das nächste Mal sehen, hast du hoffentlich ein bisschen gutes Benehmen gelernt.«
Tommy suchte nach ihrer Hand und gab einen beinahe zärtlichen Aaah-Laut von sich.
Anschließend umarmte Julia ihre Großmutter. »Auf Wiedersehen, Granny.«
»Das will ich hoffen«, sagte Ada. »Du wirst uns fehlen.«
Julia löste sich aus den Armen ihrer Großmutter und sah Simon an.
Er schüttelte leicht den Kopf, was bedeuten sollte: nicht hier, vor allen anderen.
»Nun geht schon«, sagte Hanna. »Ich komme dann nach.«
Sie standen auf dem Parkplatz im Schatten eines Baumes und hielten einander an den Händen.
»Es ist nicht fair, dass sie dich einfach so gehen lassen«, sagte Julia. Das Atmen fiel ihr schwer und mit Sicherheit lag das nicht nur an der großen Hitze. Sie fühlte sich, als würde etwas ihr das Herz zusammendrücken.
»Es ist schon in Ordnung.«
Sie hatte gewusst, dass Simon das erwidern würde.
»Deine Granny hat mal zu mir gesagt, wenn etwas endet, beginnt auch etwas.« Simons Stimme klang merkwürdig rau. »Das Problem ist nur: Ich weiß, was ich verliere, und habe keine Ahnung, was ich bekomme.«
Julia kämpfte gegen die Tränen. »Ich finde es blöd, dass ich erst fünfzehn bin. Ich wünschte, ich könnte hierbleiben, bei dir.«
Simon schüttelte den Kopf. »Aber ich habe ja nicht mal ein Zuhause.«
»Wo immer deine Bücher, deine Steine sind, wirst du zu Hause sein. Unsere Vorfahren sind auch nie an einem Ort geblieben.«
Er legte seine Unterarme leicht auf ihre Schultern. »Ich werde Geld verdienen und dich besuchen.«
»In Deutschland?« Julias Herz machte einen Sprung.
»Ich dachte, da kommst du her. Hab ich was verpasst?« Ein Lächeln erschien in seinen Augen. Es war das einsamste Lächeln, das sie je gesehen hatte.
Julia umarmte ihn fest. »Versprochen?«
»Versprochen.«
»Ich liebe dich, Simon.«
Vermutlich hatte das noch nie jemand zu ihm gesagt und Julia
merkte, dass er ein wenig wankte. Er öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, da küsste sie ihn und drückte sich noch einmal an ihn. Nach einer Weile nahm Simon sie an den Armen und schob sie von sich. Hanna stand ein paar Meter von ihnen entfernt und wartete. Sie trug eine dunkle Sonnenbrille und tat so, als würde sie in ihrer Handtasche kramen. Simon nahm Julias Hand und legte etwas hinein, das schwer war und warm. Es war der rote Stein. Ihr Traum. »Danke«, sagte sie und schloss ihre Finger darum. Dann wandte sie sich mit einem Ruck von Simon ab und lief mit steifen Beinen auf ihre Mutter zu. Bevor sie in den Leihwagen stieg, drehte Julia sich noch einmal um, aber der Platz unter dem Baum war bereits leer.
»Das wollte ich dir ersparen«, sagte Hanna, als sie den Leihwagen wendete. »Aber du wolltest ja nicht auf mich hören.«
Julia sah aus dem Fenster und schwieg.
Nichts konnte den Schmerz der Trennung lindern. Aber Julia wollte auch nicht, dass er ihr erspart blieb. Sie würde zurückkehren und versuchen, damit fertig zu werden. Genauso wie mit der unumstößlichen Tatsache, dass ihr Vater nicht mehr für sie da war. Manchen Wunden muss man Zeit geben, damit sie heilen können.
Während der Fahrt und auch später noch auf dem Flug, hielt Julia den roten Stein fest umklammert in ihrer rechten Hand. Er war der Traum, den sie mit Simon teilte; das Geheimnis ihrer Körper, das sie gemeinsam entdeckt hatten. Und Julia begriff, dass einem nur gehört, was man loslassen kann. Immer wieder.
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